Abgehauen

Die Sozialarbeiterin Susanne Hilfreich hat heute einen schweren Tag vor sich. Sie will die Kinder der Familie Fuchs in ein Kinderdorf bringen. Das ist nicht leicht, sagt sie, wenn Eltern und Kinder getrennt werden. Aber die Eltern Fuchs haben sich nicht ausreichend um die Kinder gekümmert, sie bekamen nicht ausreichend und regelmäßig zu essen, wenn sie in die Schule gingen hatten sie nicht die Kleidung, die für das Wetter richtig gewesen wäre. Die Eltern achteten auch nicht darauf, dass die Hausaufgaben ordentlich gemacht wurden. Die Grundschullehrer von Greta, die die 2. Klasse besuchte und Hans, der Schüler der 4. Klasse war, hatten das Jugendamt informiert, dass die Kinder nicht gut ernährt seien und keine ordentliche Kleidung trügen. Frau Hilfreich kannte die Familie Fuchs seit einem Jahr. Sie wusste beide Eltern tranken viel Alkohol. Frau Hilfreich hatte versucht mit den Eltern zu sprechen, dass sie weniger Alkohol trinken sollten und sich mehr um die Kinder kümmern müssten. Aber es hatte nichts genutzt. Die Eltern, sagt Frau Hilfreich, sind einfach überfordert. Jetzt sagten die Eltern selber, es ist besser für die Kinder wenn sie ordentlich versorgt werden und sich Erzieher um sie kümmern. Frau Hilfreich hatte eine Wohngruppe in einem Kinderdorf für die Geschwister ausgesucht. Dort lebte ein Erzieherehepaar und 3 Kinder zusammen, Greta und Hans konnten noch dazukommen. Im Kinderdorf gab es viele Sport- und Freizeitangebote, auch Hilfe bei den Hausaufgaben. An dem Tag an dem Frau Hilfreich mit den Kindern in das Kinderdorf fahren wollte, waren die Kinder nicht zu Hause. Die Eltern sagten, die beiden seien schon gestern abgehauen. Aber die kämen bestimmt wieder, wenn sie Hunger hätten. Die Kinder wollten bestimmt nur die Eltern und Frau Hilfreich ärgern. Nein, die Polizei hatten die Eltern nicht informiert als die Kinder über Nacht nicht nach Hause kamen. Das machte jetzt Frau Hilfreich, sie meldete die Kinder als vermisst und veranlasste die Polizei nach den Geschwistern zu suchen. Ein Bild von den Beiden soll in der Zeitung abgedruckt werden mit dem Titel "zwei Kinder seit 2 Tagen vermisst". Greta und Hans waren unterdessen mit der S-Bahn in die große Stadt am Main gefahren. Im Bahnhof der großen Stadt waren viele Polizisten unterwegs, denen wollten die Beiden nicht begegnen. Sie gingen den ganzen Tag durch die Fußgängerzone in der Innenstadt, besuchten viele Kaufhäuser und weil sie Hunger hatten nahmen sie Schokolade und Plätzchen aus der Süßwarenabteilung ohne zu bezahlen, denn Geld hatten sie keines. Als die Geschäfte am Abend schlossen, wussten sie nicht wohin. In einer Einkaufspassage fanden sie eine warme Ecke über einem Luftschacht. Dort versuchten sie zu schlafen. Aber das ging schlecht, immer kamen Leute vorbei, die grölten, lachten, oder schimpften. Einmal trat sogar ein junger Mann gegen den Po von Hans. Am Morgen kam ein Mann vorbei, der sehr freundlich war. Ihr habt bestimmt Hunger, kommt mit, ich mache euch ein gutes Frühstück und Duschen könnt ihr auch bei mir. Der Mann wollte, dass sich die beiden Kinder nach dem Duschen nicht anziehen. Er wollte erst ein paar Fotos machen, die könne er verkaufen. Viele Erwachsene liebten solche Bilder. Hans und Greta dürften bleiben solange sie wollten, er würde auch für ein gutes Essen sorgen, sie müssten sich nur fotografieren lassen, so wie er es wolle. Da sagte Hans zu Greta, solche Schweinereien machen wir nicht mit, komm wir laufen weg. Die beiden rannten zum Fluss, dort gab es einen Park und viele Bänke. Sie setzten sie sich hin und überlegten, was sie weiter machen sollten.

Ein Junge kam vorbei, gerade ein paar Jahre älter als Hans und Greta. Na, sagt er, ihr seid wohl von zu Hause abgehauen. Besser ihr geht wieder zu Mami und Papi. Ne, die wollen uns nur in ein Heim abschieben war die Antwort der Geschwister. Habt ihr denn keinen Hunger, fragte Stefan, so hieß der Junge der mit Greta und Hans sprach. Doch, war die Antwort. Ich erkläre euch ein paar Tricks, sagte Stefan. Geht in eine Metzgerei und sucht euch Fleischwurst und ein paar Würste aus. Wenn es ans Bezahlen geht, sagt, die Mutter käme gleich vorbei und würde alles bezahlen, dann schnappt ihr euch die Wursttüte und geht ganz schnell raus, wenn euch einer folgt, dann lauft, ihr seid schneller als jeder Erwachsene. Beim Bäcker macht ihr es ähnlich. Ihr könnt auch Klamotten in den Kaufhäusern mitnehmen, meistens merkt es keiner, wenn ein Kaufhausdetektiv kommt, lauft schnell weg, wenn er euch festhält, schreit ganz laut und schrill um Hilfe, er lässt dann los und ihr könnt weglaufen. Wisst ihr dann wo ihr schlafen könnt? Weiter am Main entlang kommt eine große Spedition. Da ist ein großer Zaun um das Gelände gezogen, auf dem viele Sattelzüge stehen. An einer Stelle habe ich ein Loch in den Zaun geschnitten, da, wo ein paar große Bäume stehen. Wenn es dunkel ist, müsst ihr an den Fahrertüren prüfen, ob sie abgeschlossen sind. Meistens gibt es ein paar offene Türen. Ihr könnt dann einsteigen und in der Fahrerkoje hinter den Sitzen schlafen. Ihr müsst nur in der Frühe aufpassen, dass euch die Fahrer nicht erwischen, wenn sie ihren Dienst antreten. Danke für deine Tipps, sagten Greta und Hans. Der Tag den sie dann erlebten war anstrengend: Das Weglaufen wenn sie etwas gekauft hatten ohne zu bezahlen, das Rumlaufen durch die langweiligen Kaufhäuser und die Angst erwischt zu werden.

Die Nacht verbrachten sie dann in einem Sattelschlepper. Der Fahrer hatte sogar noch eine Tüte mit Keksen im Wagen gelassen. Die Koje war sehr gemütlich und warm und die Geschwister kuschelten sich aneinander und schliefen tief und fest. Geweckt wurden sie von einem großen Mann mit dickem Bauch, der sie aus der Koje zog, Na, was haben wir denn da für einen Fang, meinte er. Ich bring euch mal zu Sabine, die schaut mal wie es mit euch weiter geht. Ihr seid ja wohl abgehauen und eure Eltern werden sich große Sorgen machen. Sabine war die Sekretärin der Spedition. Sowas, sagte sie, eine Woche bevor ich in Rente gehe. Na, setzt euch mal dahin, ich mache euch eine Tasse Schokolade und ein Brot habe ich auch noch für euch. Aber dann geht es ab nach Hause. Ihr bleibt schön da sitzen und die Tür schließe ich vorsichtshalber mal ab. Weglaufen gibt es bei mir nicht. Sabine macht den Beiden eine Schokolade und teilt ihr Frühstücksbrot mit ihnen. Dann ruft sie bei der Polizei an, dass sie in einem ihrer Sattelschlepper zwei Ausreißer gefunden habe. Die Polizei kommt, schreibt die Namen und die Adresse von Hans und Greta auf, dann rufen sie beim Jugendamt an. Sie sprechen mit Frau Hilfreich, die ist sehr froh, dass die beiden Kinder gefunden wurden. Sie informiert auch die Eltern, die schimpfen, weil die Kinder so unvernünftig gewesen sind und soviel Ärger machen. Frau Hilfreich fährt zur Spedition und nimmt die Kinder in Empfang. Gottseidank seid ihr wieder da, sagt sie.

Wir fahren jetzt zu Euren Eltern, ich passe auf, dass sie nicht schimpfen und dann fahren wir alle gemeinsam in das Kinderdorf von dem ich euch ja schon erzählt habe. Ich glaube es wird euch da gut gefallen. Eure Eltern können ja immer kommen und euch besuchen und wenn sie für euch sorgen können, dann könnt ihr am Wochenende auch nach Hause. Die Eltern bedanken sich bei Frau Hilfreich, dass die Kinder jetzt gut versorgt werden. Bei ihnen hätten die Beiden ja nur Ärger gemacht. Greta und Hans wissen noch nicht ob sie sich im Kinderdorf wohlfühlen. Sie sind ganz still, hören zu was die Kinderdorferzieher sagen und freuen sich, dass die drei Kinder aus der Wohngruppe ein Schild aufgestellt haben auf dem steht: "Herzlich Willkommen".

Später im Auto, als Frau Hilfreich die Eltern wieder nach Hause fährt, müssen die Eltern dann doch weinen. Frau Hilfreich ist froh, dass die Kinder wieder da sind, jetzt ein gutes Heim gefunden haben und die Eltern auch einverstanden sind mit der Unterbringung ihrer Kinder.

Die Eltern dürfen ihre Kinder im Kinderdorf besuchen, wenn sie nicht alkoholisiert sind. Einmal im Monat dürfen die Kinder auch mit den Eltern für ein Wochenende nach Hause.

Der Vater von Greta und Hans arbeitet als Lagerist in einer großen Firma. Der Chef dort hat schon ein paar Mal bemerkt, dass der Vater Bier während der Arbeit trinkt. Er sagt, das geht so nicht weiter. Entweder sie machen eine Entziehungskur oder ich muss sie entlassen. Da besinnt sich der Vater und macht die Entziehungskur in einer Klinik. Der Arzt dort sagt, man trinkt nicht aus Kummer, sondern braucht den Kummer um zu trinken. Probleme löst man nur, wenn man auf Alkohol verzichtet. Die Eltern trinken seitdem keinen Alkohol mehr, sie gehen einmal im Monat zu den Anonymen Alkoholikern. Das ist eine Gruppe von Menschen, die sich gegenseitig helfen, keinen Alkohol mehr zu trinken. Mit ihren Freunden machen sie Spieleabende oder gehen wandern, am liebsten in den Bergen. Wir genießen den weitern Blick, sagen sie.

Als Greta 14 Jahre alt ist und Hans 16 Jahre alt, wollen sie wieder bei den Eltern wohnen, auch wenn es ihnen in der Wohngruppe des Kinderdorfes gut gefallen hat. Die Wohngruppenerzieher, Frau Hilfreich, Greta und Hans und die Eltern machen eine Helferkonferenz. Da wird beschlossen, dass die beiden Kinder wieder bei den Eltern wohnen können, da die Eltern versprechen, sich jetzt um die beiden zu kümmern. Greta und Hans machen die Mittlere Reife, Greta wird Krankenschwester und Hans Mechatroniker. Hans geht für zwei Jahre als Entwicklungshelfer nach Äthiopien. Greta liebt das Reisen und dieses Jahr besucht sie Hans in Äthiopien.

Sie sind sich einig: Am Ende wird alles gut, und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es auch noch nicht zu Ende.